20120915

MUTTERTIER ("Your turn, my turn")


Berlin, 15. August 2009, 18:12 (MEZ)

Das war nicht sein Land. Er vermisste den Sand. Er vermisste die Wellen gegen die Felsen. Er vermisste ein Board unter den Füßen und heiße Girls im Bikini. Märkische Erde ist doch sandig, sagte Annie. Bikinis trägt sie nicht mehr, sagte sie, seit sie die Söhne gebar und die madigen Streifen an den Hüften hatte. Aber das war keine Wüste mit Oasen, Berlin war eine schmuddelige Schlammpfütze. Alle Farben waren angegraut in diesem kühlen Norden. Es war Sommer und nichts glühte, nicht einmal der Asphalt. Nur er war erhitzt und rannte schwitzend durch die Stadt, nicht weil die Sonne auf ihn brannte, sondern weil er nicht wusste wohin, aber auch nicht still sitzen konnte, nicht in der schäbigen Wohnung, die er mit Karim teilte, nicht im Studio in den Garagen hinterm Ostbahnhof, wo er zwei Saiten seiner Gitarre zerrissen hatte. Sie ließ ihm keine Ruhe, diese Frau, die er nicht haben konnte und niemals gewollt hatte. Wer bist du, Annie, wenn du die Augen schließt? Wohin entgleitest du, wenn du dich unter mir durchdrückst und mir entschlüpfst? Was fühlst du, wenn du dein Kleid überstreifst und nur aus dem Handgelenk heraus ein wenig die Finger hebst, um zum Abschied ein Winken anzudeuten? „See you next week.“

Something involving a lie
Something between you and I
The light fades away
And the day turns to grey
And you say, say

Nächste Woche, Annie, nächste Woche sind sieben Tage, sieben Tage, die ich damit verbringe, mir in der S-Bahn Mädchen auszusuchen, schöne Mädchen, dunkelhaarige mit aparten Gesichtern, langbeinige Blondinen, zierliche, blasse Rotschöpfe, kühle Brünette, keine älter als zwanzig, mit langen Haaren, die ihnen über die Schultern fallen und mit Lippen, die sie zu einem ironischen Lächeln, schürzen, das sie mir schenken: „Geht was?“ Weißt du das eigentlich, Annie, weißt du, das, wie die Mädchen hinter mir her sind, immer schon? Nie habe ich Schwierigkeiten gehabt, eine zu finden, die mich mitnimmt. Ich gehöre nicht zu den Männern, die sich einbilden, sie könnten jede haben, aber ich kriege immer genug. Da ist was an mir, sagt Karim, was sie hinreißt, was Dunkles, Brodelndes. Ich brauche das nicht zu inszenieren, das ist einfach da, mein dickes widerspenstiges Haar, das ich wüst um den Kopf stehen lasse, die tiefliegenden Augen, vor allem die Falte über die Stirn, die mich älter und erfahrener macht, als ich bin. Sie wollen mich. Sie wollen diese Düsternis mit ihrer Heiterkeit erhellen. Sie wollen mich lachen machen, um mich dann zu verlassen. Denn das weißt du auch nicht, Annie, dass ich sie haben kann, aber keine halten. Du brauchst mich nicht zu bedauern, deswegen, denn ich habe das auch nie versucht. Mir reicht es sie zu erobern, sie hinzureißen und niederzuwerfen und ihr Glucksen zu hören an meinem Ohr, wenn sie sich ergießen. Das reicht mir. Die Zettel mit den Telefonnummern, die sie mir auf den Tisch legen oder in die Tasche stopfen, werfe ich immer gleich weg. So habe ich es in Sydney gehalten, so in Berlin. Ich sehne mich nicht nach Gesprächen mit ihnen, denn ich kann ihnen ohnehin nicht zuhören, weil ich auf ihren Ausschnitt starre und beobachte, wie die Spitze sich ein wenig herausschiebt, wenn sie sich vorbeugen oder in ihren rätselhaften blauen Augen versinke oder meine Hand über ihre Schenkel schiebe, wenn wir schon so weit sind. So habe ich es auch bei dir gemacht. Dennoch war es etwas anderes. Ich war mir sicher, wie ich mir immer sicher bin, wenn es um Frauen geht. Ich wusste, dass was geht. Aber ich ahnte auch, dass ich mich verstricken würde. Ich hatte dir schon zu lange gelauscht, Annie. Ich hatte mich an deine Stimme berauscht (die gar nichts Besonderes ist, wenn du nicht singst mit mir. Ich war deinem Blick ausgewichen, weil er mich traf. Dafür gibt es keine Erklärung und keinen Grund, denn du bist gar nicht mein Typ und niemand könnte mir nachsagen, dass ich auf ältere Frauen stehe. Wenn du fragen würdest, könnte dir jeder sagen, der mich gekannt hat, dass das abwegig ist.

Soft sure
As a knock on your door
Please say you´re there
Wait ,wasted
I´m here, I´m here
Lose it, yeah

„Ich könnte deine Mutter sein“, hatte sie gesagt beim letzten Mal danach, als sie sich von ihm weggedreht hatte, nachdem er sie bat: „Come with me. Let´s rock Bondi Beach.“ Du weißt nichts über meine Mutter und ich werde dir niemals etwas von ihr erzählen. Seine Mutter hatte ihn gehasst. Sie war ein Grab, aus dem er  geworfen worden war, zu seinem Glück. Das durfte sie nicht erfahren. Wenn sie wüsste, wer seine Mutter gewesen war, ließe sie ihn nie mehr herein. Er wolle von ihren Söhnen nichts wissen, beschwerte sie sich. Das tue ihr weh. Ich will nicht wissen, Annie, dass du eine Mutter bist. Er wollte nicht daran denken, dass sie Söhne hatte, denen sie das Grab schaufelte. Meine Mutter war eine Hexe und wohnte auf dem Grund des Meeres. Ihre Haare waren grün und ihr Gesang schauerlich. Sie riss ihr fauliges Maul auf, um mich zu verzehren. Ich habe ihr die Augen aus den Höhlen gerissen und die Zunge abgeschnitten, doch ihr starrer Blick verfolgt mich und ihr fürchterliches Gegröle schallt über die Ozeane bis ins märkische Flachland. Annie, ich will dich zu Tode küssen, denn wenn du den Mund öffnest, rieche ich das Meer.

Er stand auf der Brücke am Mühlendamm und spuckte in die Spree. Wohin fließt die Spree, Annie? Alle Flüsse münden im Meer. Seine Spucke für Bondi Beach. „CU next week.“ Eine Woche hat sieben Tage. Sieben Nächte. Sieben Mädchen. Eine Blondine im Mini-Rock stolzierte vom Nicolai-Viertel auf den Damm zu. Ihre rote Tasche wippt.e Ihre Hüften schwangen unter dem gestreiften Frotteestoff. Er spannte sein Gesäß an und schob das Kinn vor.