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WELLEN. ("Our tension and our tenderness")


Berlin 2. August 2009, 13.45 Uhr (MEZ)

Dass es mehr war als eine Affäre, ein Aufbäumen gegen das Altern, die Geilheit auf einen faltenlosen durchtrainierten  Körper, die Bestätigung der noch vorhandenen Attraktivität durch die zärtlichen Hände eines jungen Schönlings auf meinen Hüften, dass es mehr war; spürte ich nicht in unseren atemlosen Umarmungen oder wenn ich erschöpft neben Tomasz lag. Ich sah es nicht, wenn er sich erhob, um am Fenster eine Zigarette zu rauchen, eine makellose Silhouette hinter der gelben durchscheinenden Gardine. Ich sah es völlig unerwartet, als ich ihn in den Arkaden sitzen sah, von Weitem, vor einem Schnellrestaurant mit Karim, die Arme aufgestützt und den Kopf vorgeschoben, die wüste dunkle Haarlocke tief in die Augen fallend, die müde wirkten und traurig, während Karim, schmal und agil, mit beiden Händen gestikulierend auf ihn einredete. Da sah ich es, dass ich verloren war, dass ich mich nicht mehr befreien konnte von dieser Fesselung an einen Mann, der mir so fremd war und bleiben würde, an den ich aber schon gebunden war wie mit festen Tauen durch dieses Gefühl, das mich in diesem Moment erfasste oder dass ich in diesem Moment, als ich stehen blieb, als habe mich etwas plötzlich erschreckt, endlich erkannte: Ich liebte. Ich liebte diesen Mann, den ich aus der Distanz beobachtete, diesen Mann mit dem widersetzlichen Kinn und der ein wenig kindlichen Unterlippe, diesen Mann mit den wilden Augenbrauen und der zornigen Falte über der Stirn, diesen Mann, der an diesem Nachmittag wirkte, als habe er seit Tagen viel zu wenig geschlafen, der seine Hände gegen die Schläfen presste und seinen Freund zu ignorieren schien. Und den liebte ich auch schon, den Mann neben ihm mit der olivfarbenen Haut, dem kahlen Schädel, der scharf gebogenen Nase und den schmalen Lippen, der dem dunklen Grübler die Arme um die Schultern legte und ihn ein wenig rüttelte. Den liebte ich wie einen Sohn.

No matter what you say,
No matter what you do
I want to be the one and
Love is a Sign

Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Dieser letzte Gedanke erschütterte mich noch mehr als die Erkenntnis, wie sehr ich dem dunklen Tom verfallen war. Es war nach allen Maßstäben, die ich kannte, ein ungeheuerlicher Betrug, die Stärke dieses Gefühls für die beiden Fremden, ein Betrug an Mann und Kindern. Aber die Wahrheit war doch, dass diese neue Liebe der anderen, die ich über die Jahre gehegt und gelebt hatte, keinen Abbruch tat, dass sie nebeneinander in mir waren und ich weder die eine noch die andere in mir ersticken konnte.

Ich kannte Karim kaum. Aber wie sie da beieinander saßen vor ihren Hamburgern und ihren erkalteten Pommes auf den schmuddeligen Tabletts, wusste ich, dass sie zusammen gehörten und eine Frau, die den einen liebte, auch den anderen lieben musste und als Karim aufsah, sich umschaute und mich erkannte, sah ich: Er wusste es auch. Er winkte mich heran. Tomasz zuckte zur Begrüßung nur mit den Schultern. Aber Karim sprang auf und ergriff meine beiden Hände, um mich zu dem leeren Stuhl an ihrem Tisch zu ziehen. „Annie, happy to see you.“, sagte er und lächelte mir zu. Dabei flehten seine Augen mich an. Er liebte den Mann, den ich liebte, genauso sehr, wie ich den liebte. Nur anders. Und der Mann, den wir liebten, war krank vor Liebe, von unsere Liebe und der die ihm fehlte und immer fehlen würde. Das war so und da saßen wir drei und wussten es und Karim hielt meine Hand, bis er bemerkte, dass Tomasz auf unsere verschränkten Finger starrte. Erst da ließ er mich los. Das hatte alles höchstens eine Minute gedauert, aber ich hatte begriffen, was ich für Tomasz bedeutete und dass Karim uns helfen wollte, koste es, was es wolle.

Our tension and our tenderness
Wave after wave
Our tension and our tenderness

Die Liebe ist ein Zeichen und die Liebe zwischen Tomasz und mir war ein Zeichen unseres Unvermögens. Wir hatten beide, ein jedes auf seine Weise, in der Welt, in die wir gehörten, versagt. Wir hatten den Menschen, die uns liebten, misstraut und uns gegen sie verhärtet. Jetzt saßen wir hier und hatten einander gefunden, um unser Unheil vollkommen zu machen. Es war Karim, der um den Schmerz, den wir einander zufügen würden, wusste, aber der auch fühlte, dass wir um diese Liebe nicht herum kamen.

Wir sprachen über nichts anderes an diesem Nachmittag als über die Band und die Lieder, die Tomasz komponiert hatte und die Arrangements, die Karim vorschwebten. Aber unter der Oberfläche dieser freundlichen Gespräche breitete sich zwischen Karim und mir ein Einverständnis aus und umfing uns drei mit einer Sicherheit, die ich lange nicht mehr gefühlt hatte. Wenn Karims und meine Augen einander trafen, dann waren wir uns so vertraut, als hätten wir uns ein ganzes Leben gekannt. Wir hatten uns in den Arkaden getroffen, damit sie mir den Raum zeigen konnten, den sie gemietet hatten, um zu proben. Ich setzte mich ans Schlagzeug und spielte ein wenig mit den Trommelstöcken herum. „She can do.“, sagte Tomasz. Und Karim sagte: „I know.“ Es war lange her, dass ich zuletzt gespielt hatte, aber die Nervosität, die mich auf dem Weg in die Arkaden zu unserem Treffen begleitet hatte, war von mir abgefallen, seit ich in Karims Augen gesehen hatte. „She can do.“ Ich konnte es, weil ich es musste. Das hatte Karim mich wissen lassen und ich hatte verstanden. Wir fingen an und ich war gut und ich würde noch besser werden. Für Tomasz. Für Karim. Weil die Liebe ein Zeichen ist und keine das Recht hat, immer zu versagen.